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Neulich war ich als Kilometerfresser unterwegs, was nach zwei Tagen in der ekligen Aprilkälte mit dem lebensrettenden Verzehr Grüner Soße endete. In einer Kneipe, die den Namen des Schriftstellers und Satirikers Eckhard Henscheid trägt. Eine solche Auszeichnung muss sich erst mal einer verdienen, der noch am Leben ist.

Die Grüne Soße schlürfte ich in Frankfurt am Main, einer Stadt, der die Schriftstellerin Eva Demski das Prädikat "Weltkaff" verliehen hat. Tatsächlich gibt es weltweit keine andere so ländlich eingehüllte Stadt, die mit richtigen Hochhäusern, einer Selfie-tauglichen Skyline und einer nicht ganz unauffälligen Europäischen Zentralbank (EZB) aufwarten kann. Aber lassen wir die Kirche im Dorf. Und den Kapitalismus sowieso.

Frankfurts Grün reduziert sich im Übrigen keinesfalls auf fragwürdige Kräutertunke. In dieser Stadt sprießt und wuchert es, und einen Fluss mit fußgängerfreundlichen Ufern haben sie dort auch. Der Strand liegt nicht unterm Pflaster.

Soll jetzt keiner denken, ich wollte hier die urbanen Qualitäten Frankfurts und seiner Sehenswürdigkeiten beurteilen. Gott bewahre, im Namen der Architektur. Ich warne vielmehr vor dem Irrglauben, der Spaziergänger sei ein Touristenführer, um den werten Leserinnen und Lesern Routen zum Hinterherwatscheln vorzuschlagen, als wären sie Graugänse. Und man hüte sich vor Leuten, die meinen, das Zufußgehen habe den Sinn, die Stadtlandschaft zu prüfen, ob man zum Wohl der eigenen Weltbedeutung ein Gebäude versetzen oder eine Autobahnkurve begradigen muss. Dieses Koordinatendenken von wichtigtuerischen Technokraten zur Vermessung ihres Globus würde mein Gehergehirn überfordern. Auch betrachte ich meinen fragwürdigen Privatgeschmack nicht als Maßstab für die Welt und deren Käffer. Zur Abwehr aller Alleswisser empfehle ich einen Song meines Lieblingsmusikanten Chip Taylor: "Fuck All The Perfect People".

Keine kopflose Leibesübung


In einer Stadt herumzugehen bedeutet: draußen sein. Den Körper bewegen. Beinarbeit ohne Arbeitseifer leisten. Augen und Ohren öffnen. Atmen. Sehen. Die Politik des öffentlichen Raums verstehen. Sein Recht auf Stadt begreifen. Die Straßenenergie des Widerstands spüren. Wer geht, schweift ab: Hat womöglich etwas mit Leben zu tun. Und als Gedankenspringer hast du mehr von diesem Leben.

Die Kilometerfresserei erwähnte ich eingangs, weil ich in Begleitung eines alten Freundes an zwei Tagen mehr als dreißig Kilometer durch die Stadt zog. Die längste Pause zwischendurch wurde mir am Bornheimer Hang gewährt: mit einer 1:3 Niederlage der gottverdammten Stuttgarter Kickers beim FSV Frankfurt. Solche Erlebnisse lassen sich mit etwas Klassenbewusstsein als ein politisches Kapitel Lebenserfahrung wegstecken. In deinem viertklassigen Dasein auf dieser Welt gibt es nicht nur Siege, so wahr die EZB kein Wohlfahrtsheim ist.

Der erwähnte Freund heißt Stefan Geyer, ich kenne ihn, seit wir zum ersten Mal die Beatles im Radio hörten. Noch heute muss dieser Kerl "The Long And Winding Road" im Kopf oder meinetwegen in den Zehen haben. Hartnäckig zieht er seit Jahren mit so sensiblen Sensoren durch die Stadt, dass in diesem Mai sein Buch "Der Stadtwanderer" herauskommen wird. Gehen ist kein Wadenmuskelding. Deshalb will ich diese ganz und gar nicht kopflose Leibesübung heute wieder allen ans Herz legen, deren Pumpe und Gehwerkzeuge noch intakt sind. So langsam komme ich auf meiner finalen Strecke zu der Erkenntnis, dass einige von uns neben dem Internet ein Auffangnetz brauchen, in dem menschliches Fleisch und Blut noch halbwegs zu spüren sind. Das Straßennetz der Stadt gehört weltweit keineswegs den Autos, außer im Fern-der-Welt-Kaff Stuttgart. Doch selbst hier sind trotz der Fahrtwinde gute Fußreisen möglich, falls man sein E-Bike von Ferrari mal stehen lässt.

Damit appelliere ich an alle, die gehen können, das Unterwegssein zu Fuß als eine Art mentale Schulung zu betrachten. Motion und Emotion. Kapiert? Bewegen, schlendern, das Resthirn anfeuchten an der Hanns Guck-in-die Luft – das kommt vielen Dingen zugute. Womöglich könnten die zeitweilige Abkehr vom Bildschirm und die Hinwendung zur Realität sogar die Sicht auf die herrschenden Wahlkämpfe aufhellen. Vielleicht sind hier und da unter den Partei-Maschinen noch Menschen zu identifizieren. Dieser Gedanke hat nichts mit Gefühlsduselei zu tun. Er reduziert den Drang zur politischen Kapitulation im Angesicht der ganzen Soße – egal, welcher Farbe.

Nicht mehr wegsehen können


In Lauren Elkins Buch "Flâneuse", das ich erst noch richtig lesen muss, findet sich der Satz: "Wenn man sehen lernt, bedeutet das auch, dass man nicht mehr wegsehen kann." Bin mir nicht sicher, ob ich es je so gut gelernt habe. Zumindest übersehe ich auf dem Weg zur ehemaligen Großmarkthalle im Frankfurter Ostend, von wo aus Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden, nicht die Zitate von Zeitzeug:innen auf den Steinplatten. Wie dieses von Lilo Günzler: "Ich wollte mitlaufen, aber ein SS-Mann ließ an einer Absperrung keinen Angehörigen durch. Bis zu mir konnte ich die lauten, schrillen Befehle hören, die ein uniformierter Mann brüllte. 'Alles stehenbleiben. Mit dem Gesicht zum Zug. Immer 60 Personen in einen Wagen einsteigen'."

Die ehemalige Großmarkthalle ist heute Erinnerungsort und Teil des EZB-Ensembles. Den Zusammenhang von Sehen und Nicht-Wegsehen sieht der geübte Herumgeher überall. So gesehen ist die eigene Stadt für den Spaziergänger oft nichts anderes als ein Vehikel, ihm behilflich, sich ein Weltbild zusammenzufügen. Gleichgültig, in welche Weltstadt oder welches Kaff er sich verirrt. Wer in Brooklyn wirklich etwas sieht, schweift nicht arrogant durch Bempflingen. Und wer zu den Orten der Juden-Deportationen geht, an die ehemalige Frankfurter Großmarkthalle oder zum Stuttgarter Nordbahnhof, der sieht, wo der Geist der uniformierten Befehlsbrüller in unserer Gegenwart weiterlebt. In der braunen Soße, im großen Sumpf.