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Es war in diesem April, der wie ein verseuchter Hochsommer über die Stadt hergefallen war. Auf meinem Spaziergang vom Westen nach Nirgendwo landete ich auf dem Totenacker der Denker, Stuttgarts ältestem Gebeinsgarten, wie wir alten Hasen im Six-feet-under-Gewerbe sagen. Auf dem Hoppenlaufriedhof liegen Größen wie Christian Friedrich Daniel Schubart und Wilhelm Hauff. Verwest, aber unvergessen.

Keine Frage, der Geist von Stuttgart modert längst im Sarg. Wer ihn mangels lebender Hirne ausbuddeln möchte, dem sei das Buch "Die Gräber der Dichter" von Waltraud und Friedrich Pfäfflin empfohlen; dieses umfassende Werk über den Hoppenlaufriedhof ist 2013 in der Edition Vincent Klink erschienen.

Wie gesagt, ich war rein zufällig auf dem Sammelplatz der alten Knochen, und angesichts etlicher Grabkreuze mit der lustigen Botschaft "Auf Wiedersehen" hatte ich keinerlei Bedenken, mich rasch wieder vom Acker zu machen.

Beim Besuch eines Friedhofs musst du dich nicht zwingend mit dem kompletten Untergrund-Personal beschäftigen, um seine Bedeutung zu erkennen. Im Lärm und Dreck der Stadt sind Kirchhöfe heute unersetzliche Pausenhöfe. Nicht nur an Hochsommertagen im April dienen sie uns als lebensrettende Hitzeinseln. Im Klimawandel werden Friedhöfe immer wichtiger auf unserer überschaubaren Strecke bis zur Gruft. Man darf ihre sozialpolitische Relevanz nicht unterschätzen.

Stuttgarts Gehsteige gaukeln Überlebenschancen vor


Im erwähnten Buch der Pfäfflins wird der Schriftsteller und Satiriker Carl Julius Weber aus Hohenlohe zitiert: Wolle man eine Stadt kennenlernen, müsse man ihre Friedhöfe besuchen. In ihren steinernen Monumenten bildeten sich "die gesellschaftlichen Verhältnisse über Generationen ab ...". Die Beurteilung der aktuellen Zustände spare ich mir hier, bevor es Mord und Totschlag gibt.

Beim Spazierengehen in Stuttgarts sogenannter Innenstadt fühle ich mich inzwischen dem Tod näher als auf jedem Totenacker (sofern dort nicht gerade eine nächtliche Nachwuchsparty gefeiert wird). Viele Gehsteige sind so eng, als hätte man sie nur angelegt, um uns Fußgängern eine Überlebenschance vorzutäuschen, ohne den SUV-Verkehr zu stören. Viele Trottoirs, die Catwalks potenzieller Straßenopfer, sind ständig zugestellt. Mit Autos, E-Bikes und anderem Gerümpel. Ohne Gespür für urbane Offenheit, ohne Rücksicht auf das aufrecht gehende Tier namens Mensch wurde bei uns eine Stadt zusammengeschustert, die ihren Wohlstandssegen vor allem darin sah, allen Eingeborenen mindestens eine Karre aus heimischer Produktion anzudrehen. Anscheinend hat man lange geglaubt, die Profite mit diesen Dingern würden auf heimischen Stadtautobahnen und Parkplätzen gemacht. China lacht sich tot und gedeiht prächtig.

Wenn die global geschulten Fraktionen unserer Rathäusler ihre Provinz in der Vergangenheit mal verließen und in richtigen Städten aufkreuzten, entdeckten sie nicht etwa die urbanen Adern, die Weit- und Weltläufigkeit ihrer neuen Umgebung. Vielmehr blieben sie an irgendeiner Sehenswürdigkeit kleben, die sich so schmerzhaft in ihren Komplex-Kopf einbrannte, dass sie nach ihrer Rückkehr durch ganz Schuttgart brüllten: Wir müssen sofort einen Eiffelturm bauen. Oder eine Schlittschuhbahn. Jedenfalls irgendwas, was andere haben und wir nicht brauchen.

Einsteins Geist schwirrt durch die Stadt


Neulich war eine Gemeinderatsdelegation wieder mal in der österreichischen Hauptstadt, womöglich um die wohnungspolitischen Errungenschaften des Roten Wien zu erforschen. Was aber willst du heute machen im Kampf gegen die Wohnungsnot, wenn in deinem schwarz geprägten Kaff jeder Quadratmeter Grund und Boden längst verscherbelt wurde. Lieber tot als rot.

All diese Dinge halten mich nicht davon ab, meiner Herumgeherseele jenseits städtischer Hirntodeszonen freien Lauf zu lassen. Und so pilgere ich hinaus ins schöne Cannstatt, wo es in der Altstadt noch eine Bäckergasse, eine Tuchmachergasse und eine Gasse mit dem erregenden Namen Hagelschieß gibt.

Und auch diesmal kann ich nicht aus Cannstatts Winkeln zurückkehren, ohne im Schießhagel dieser Welt zu erwähnen, dass in der Badgasse 1858 Albert Einsteins Mutter Pauline Koch geboren wurde. Wäre ich ein Rathäusler, würde ich mit dieser hochbegabten Pauline weltweit angeben wie ein Sack Seife (keine Ahnung, woher dieser Spruch kommt). Aber die meisten sehen nicht, was sie vor ihrer Haustür haben, weil sie damit beschäftigt sind, sich anderswo an Dingen aufzugeilen, die sie selbst nicht haben. Zwar wurde Albert Einstein nach der Heirat seiner Mutter in Ulm geboren, aber ich kenne Abhörspezialisten, die Stein und Bein schwören, dass er zeit seines Lebens astreinen Cannstatter Dialekt gesprochen hat. Vor allem in seinen englischen Reden. Yes, we Cannstatt.

Immerhin wurde vor ein paar Jahren ein Schild mit dem Hinweis auf Einsteins Mutter an das Hotel One in der Badstraße geschraubt. Das kann ich nicht oft genug erzählen, weil ich immer wieder Leuten begegne, die zwar alles über Oppenheimers Atombombe, aber nichts über Einsteins Cannstatter Wurzeln wissen. Und es kann doch nicht sein, dass in diesem Stuttgart nicht noch irgendwo Einsteins Geist herumschwirrt. Wie viel davon, ist relativ. "Der Mensch erfand die Atombombe", hat er mal gesagt, "doch keine Maus der Welt würde eine Mausefalle konstruieren." Er kannte noch nicht die Mäuseriche der Stuttgarter Bahnhofsbeerdigung.